Predigt vom 15.10.2023 – Verführer

2023-10-15_28._So._i._J. – Mt 22, 1-15

Führer oder Verführer

 Liebe Schwestern und Brüder,

mir bleibt fast ein Kloß im Hals stecken in der Erkenntnis, dass diese Geschichte sich 2000 Jahre später heute fast wiederholt. Wieder dringen im Nahen Osten Menschen über Grenzen, misshandeln andere Menschen, verschleppen sie oder bringen sie um. Das ruft die Gegenoffensive hervor. Ein ganzes Heer wird mobilisiert, um mit Bodentruppen in das andere Land einzumarschieren?

 Sie hier im Hegge-Kurs arbeiten an diesem Wochenende zum Thema von autoritären Dynamiken, die auch unser Zusammenleben in dieser Gesellschaft massiv bedrohen. Mir fiel dazu eine Rede ein, die Dietrich Bonhoeffer als junger Pfarrer am 1. Februar 1933 im Rundfunk hielt, ausgerechnet zum Führerprinzip. Bonhoeffer war damals stark in der Jugendarbeit engagiert, und es ging ihm um die Frage, wie man Kinder und Jugendliche so führen kann, dass sie reifen können und zu ihrem eigenen Lebensentwurf finden. Wörtlich hat er gesagt:

„Der Mensch und insbesondere der junge Mensch wird solange das Bedürfnis haben, einem Führer Autorität über sich zu geben, als er sich selbst nicht reif, stark, verantwortlich genug fühlt, den in diese Autorität verlegten Anspruch selbst zu verwirklichen. Der Führer wird sich dieser klaren Begrenztheit seiner Autorität verantwortlich bewusst sein müssen. Versteht er seine Funktion anders als sie so in der Sache begründet ist, gibt er nicht dem Geführten immer wieder klare Auskunft über die Begrenztheit seiner Aufgabe und über dessen eigene Verantwortung, lässt er sich er sich von dem Geführten dazu hinreißen, dessen Idol darstellen zu wollen….dann gleitet das Bild des Führers über in das des Verführers.“ R. Wind 85

Als er dies gesagt beschrieben hatte, wie der Führer zum Verführer wird, hat man ihm sofort das Mikrophon abgedreht und die Übertragung abgebrochen. Die christlichen Kirchen reagierten auf den Nationalsozialismus, indem sie sich in die Sakristeien und Kirchenräume zurückzogen und mehr und mehr nur noch die Ästhetik ihrer Liturgien und Gesänge pflegten. Bonhoeffer fand diesen Rückzug widerlich und ließ sich in einer Kirchenversammlung vor den versammelten Kollegen zu dem Satz hinreißen: „Wer jetzt nicht für die Juden schreit, hat nicht das Recht gregorianisch zu singen.“ Das machte ihn nicht nur angreifbar für den Staat, das grenzte ihn auch weitgehend in seiner Kirche aus, auch in der bekennenden Kirche. Soweit wie er wollte keiner von ihnen gehen. Christsein war für Bonhoeffer vor allem Christsein für andere, Option für die Schwächsten einer Gesellschaft, damals die Juden und viele andere Gruppen. Es waren nur ganz wenige Christen, die für die Juden schrien, die an die Hecken und Zäune gingen. Die meisten passten sich an, machten mit bis zum bösen Erwachen.

 

Diese These vom Führer, der zum Verführer wird, hat nach dem 2. Vatikanischen Konzil und der Würzburger Synode, die christliche Jugendarbeit sehr bestimmt. Es ging darum, junge Menschen zu ihrer eigenen Lebensidentität zu führen, ihnen Mut zu machen zu ihren eigenen Fähigkeiten und sie dadurch zu mündigen Bürgern in unserer Demokratie und Kirche werden zu lassen, und sie nicht als Fanclub zu missbrauchen, weil auch die kirchlichen Führer Idole sein wollen. Manchmal frage ich mich: Wo sind diese Ideale heute geblieben? Der Missbrauchsskandal überlagert in unserer Kirche und lähmt alles.

Wach zu werden und zu sehen, dass die Populisten unserer Zeit mehr der Verführung oft mit Lügen und Falschmeldungen folgen als einer guten Menschenführung, ist die gegenwärtige Herausforderung.

 

Aufgewacht sind damals die Väter und Mütter unseres Grundgesetzes. Einige von ihnen haben nach dem Krieg gesagt, z.B. Carlo Schmidt: Zu Weimarer Zeiten waren wir uns als Professoren und Akademiker zu schade, um uns am dreckigen Geschäft der Politik die Finger schmutzig zu machen. Jetzt heißt es, wir brauchen jede Stimme, damit ein freieres Deutschland werde. Es ist wieder so weit 2023, die Stimme zu erheben, an die Hecken und Zäune zu gehen, also an die Grenzen Europas und unserer Länder. Dort warten unendlich viele unglückliche Menschen darauf, dass man sie abholt, ihnen Würde gibt und sagt: Ihr seid Menschen genau wie wir. Denn waren wir es nicht, die einst ihren Wohlstand auch auf Kosten Eurer Heimatländer aufgebaut haben?

 

Eine Möglichkeit dazu ist z.B., jetzt die Berliner Erklärung zur Verteidigung der Migrationsgesellschaft zu unterschreiben, die Sie Frau Dorothee gestern per Mail rumgeschickt haben. Das Evangelium von den „Hecken und Zäunen“ will gelebt werden, jetzt, hier und heute, indem wir unsere Stimme erheben. Amen.


2023-10-15 als pdf

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