Predigt vom 18.11.2023 – Volkstrauertag

2023-11-18-33.So.i.J. – Joh 14, 1 ff

Volkstrauertag

 Liebe Schwestern und Brüder,

 wenn ich hier in meiner Heimatkirche stehe, dann werden Erinnerungen wach, und die Gedanken gehen zurück in die Zeit vor mehr als 6 Jahrzehnten. Ich sehe mich als Kind in den 50-er, sechziger Jahren, wie wir des Sonntags mit dem Auto von Busch zum Hochamt in diese Kirche fuhren. Nach dem Hochamt gingen wir mit der Mutter auf den Friedhof und anschließend mit dem Vater zum Frühschoppen nach Wernys in die Kneipe. Bei Wernys hing eine große Tafel mit vielen kleinen Fotos von all den Menschen, die von den drei Dörfern am 2. Weltkrieg teilnehmen mussten, von denen, die überlebt haben und von denen, die gefallen waren. Ich entdeckte auf dieser Tafel drei nahe Verwandte, zwei Onkel von mir und meinen Vater. Die beiden Onkel waren gefallen. Der Vater hatte den Krieg überlebt. Wäre er auch gefallen, stände ich heute nicht hier. Ist mein Leben also Zufall? Ich weiß es nicht. Aber der Gedanke macht mich demütig und dankbar, dass ich in diesen drei Dörfern aufwachsen und zur Schule gehen durfte, dass niemals eine Granate, Bombe, Drohne oder Rakete auf meinen Kopf fiel, dankbar, dass ich über 70 Jahre Frieden und Wohlstand erleben durfte und nicht in Afghanistan aufwuchs. So oft ich diese Tafel bei Wernys betrachtete, habe ich mich gefragt: Wovon haben diese Menschen damals gelebt, in Krieg und Gefangenschaft? Wie haben sie das ausgehalten?

 Wir hatten zu Hause in Busch einen Nachbarn, der 1942 mit 17 oder 18 Jahren nach Russland eingezogen worden war. Als der Kessel um Stalingrad sich schloss, da kam er in sibirische Gefangenschaft und war da bis 1949, also sieben Jahre. Was sibirische Gefangenschaft damals bedeutete, das erzählt die Literatur-Nobelpreisträgerin Herta Müller in ihrem Roman „Die Atemschaukel.“ Ihr Freund, Leo Auberg, wurde wie unser Nachbar nach Sibirien verschleppt.

Leo erzählte ihr später von seinen sechs Lagerjahren. Kälte, tägliche Prügel, unmenschliche Arbeitsbedingungen prägten den Lageralltag. Aber vor allem quälte sie der Hunger. Hunger am Abend, Hunger in der Nacht, Hunger am Morgen, am Mittag, immer nur Hunger. Das ganze Denken kreiste nur noch um die eine Frage: „Woher kriege ich ein Stück Brot?“ Leo sagt: „Wir hatten unsere Sprache eingepackt in Schweigen; nur nicht auffallen, immer den Kopf einziehen, bloß keinen Mucks sagen;

 „Wir hatten unsere Sprache eingepackt in Schweigen; so dass wir nach dem Lagerleben unsere Worte nicht mehr auspacken konnten.“ Sagt..

 

Unser Nachbar in Busch, der durch die Eiseskälte in Sibirien seine Zehen verloren hatte; auch er hatte wohl seine Sprache in Schweigen eingepackt. Aber als er Anfang der 80-er Jahre mit seiner Frau Lisbeth Silberhochzeit feierte, und ich den Gottesdienst auf Hillige Seele leiten durfte, da habe ich ihn beim Vorbereitungsgespräch gefragt: „Franz, wovon hast Du all die Jahre in Sibirien gelebt?“

Da erzählte er, dass er sich Abend für Abend das Bild von seinem Elternhaus in Erinnerung gerufen hat, wie es war, als er es zuletzt im Sommer 1942 verlassen hatte. Dann stellte er sich vor, wo welcher Stuhl stand, wo der Küchentisch, welches Geschirr und Besteck wo auf dem Tisch lag, wer an welchen Platz saß. Er sah das Heu auf der Tenne liegen, die Tiere in den Boxen, die Deelentür, die halb aufstand und den letzten Blick seiner Mutter, der ihm signalisierte: Du musst wieder kommen, wir brauchen dich. Dann wusste er: Die Zuhause denken an mich und schließen mich in ihre Gebete ein. Und er ergänzte: Und so manches Vater unser hat auch geholfen.

 

Es ist die Heimat, die sich in uns verinnerlicht hat und die dann, wenn wir sie brauchen, zur tragenden Säule werden kann.

Leo Auberg in Hertha Müllers Roman erzählt ähnliches. Was mich in all den schrecklichen Zeiten getragen hat, wollt Ihr wissen. Es war der Klaps, den mir meine Großmutter beim letzten Treffen auf die Schulter gab mit dem Satz: Leo, ich weiß du kommst wieder. Und es war das Bild von meinem Elternhaus mit der Bank vor der Tür und dem Baum im Hof. In den ganz schlimmen Zeiten habe ich ganz leise dieses Lied gesummt: in meinem Kopf verbunden mit dem Lied:

 „Vor meinem Vaterhaus steht eine Linde,

vor meinem Vaterhaus steht eine Bank,

und wenn ich sie einst weder finde,

dann bleib ich dort ein Leben lang.“

Ich glaube, unser Nachbar hätte die 1949 wiedergefundene Heimat auch nie wieder hergegeben, nachdem er zurück war.

 

Aber viele Menschen, deren wir am Volkstrauertag gedenken, haben die Heimat nicht mehr erleben dürfen. Und auch mein Bruder Wilhelm hätte gern noch länger gelebt in seinem Zuhause, seiner Familie in Paderborn und in Erinnerung an seine Wurzeln in Busch und Dörenhagen. Was hilft ihm und all denen, die oft so plötzlich und manchmal unwürdig gestorben sind. Vielleicht der Gedanke, dass am Ende auch die Bank vor der Deelentür keinen endgültigen Schutz bietet.

 

Heinrich Böll hat den Satz geprägt: „Am Ende wissen wir doch, dass wir hier keine bleibende Heimat haben.“ Böll meint damit, dass wir auf diesem Planeten wie in einer Verbannung, in einem Exil leben. Wir kommen aus einer absoluten Urgeborgenheit, aus einem ewigen Zuhause und kehren dorthin zu rück, in einen Zustand überbordender Liebe. Und dass ich da all die vom Bild auf der Tafel bei Wernys, die gefallen sind, kennenlerne, sowie meinen Bruder, meine Eltern, und all die anderen wiedersehe, das glaube ich. Amen.


2023-11-18 als pdf

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.