Predigt vom 1.11.2023 – Allerheiligen

2023-11-01-Allerheiligen – Mt 5, 1ff

Rettet die Weinenden

 Liebe Schwestern und Brüder,

Selig die Trauernden heißt es bei Matthäus. Das Lukasevangelium übersetzt: Selig die Weinenden. In einem Kommentar zu diesem Satz der Bergpredigt las ich einmal: „Wir leben in einer Welt, die Trauer und Tränen nicht verträgt.“ Deshalb muss unsere Devise als Christen lauten: „Rettet die Weinenden.“

Wie eine Frau einmal eine Weinende gerettet hat, habe ich vor acht Jahren in einer Gottesdienstübertragung aus dem Kölner Dom gesehen.

 Sie erinnern sich: Am 24. März 2015 brachte ein psychisch kranker Pilot ein Flugzeug der German Wings mit 150 Menschen in den französischen Alpen zum Absturz. Niemand überlebte. Am 17. April wurde der Gedenkgottesdienst für die Opfer aus dem Kölner Dom übertragen. Die evangelische Präses Annette Kurschus sagte in diesem Gottesdienst, über den jetzt aufgerissenen Abgrund könne kein Mensch eine Brücke bauen, kein Luftfahrtexperte, kein Psychologe, keine Bischöfin und kein Kardinal. Niemand würde das verstehen. Man könne auch nicht Gott verstehen, warum Gott zugelassen habe, was nicht geschehen durfte. Er selbst müsse einstehen für das, was geschehen sei. Sie verwies auf einen Satz aus dem Buch der Psalmen: „Gott sammle meine Tränen in einen Krug.“ (Ps 56,9)

Schmerz, Trauer, Verzweiflung seien bei Gott aufgehoben. Die Präses rief dazu auf, die Würde der Trauernden zu achten. Es sei würdelos, wenn Medien ein Geschäft mit den Tränen von Weinenden trieben. Im Weinen sei die Würde eines Menschen besonders verletzbar. Die Tränen der Trauernden gehörten niemanden als ihnen selbst. Achtet die Tränen. Ehrt und schützt diejenigen, die sie weinen, war ihr Aufruf.

 

Unter den Opfern war auch eine Gruppe von sechzehn Schüler: innen eines Haltener Gymnasiums. Eine Schwester von einer der Schülerinnen, die ihr Leben verloren hatte, trat ans Mikrophon und sprach eine Fürbitte. Mitten in der Bitte versagte die Stimme, ein plötzlicher Weinkrampf. Eine andere Angehörige trat von hinten hinzu, legte ihr die Hand auf die Schulter, so dass sie weiter beten konnte. Sie hat die Tränen dieser Schülerin gerettet.

 

Rettet die Weinenden. Mir kommt da ein Film in den Sinn, in dem von einer Stadt die Rede ist, die im Zeitalter absoluter Digitalisierung beherrscht wird von einer Computerzentrale und den da hinter stehenden Despoten. In dieser Stadt sind die Gefühle abgeschafft, die Menschen müssen nur noch funktionieren nach bestimmten Programmen.

Denn in dieser Stadt heißt es nicht mehr: „Selig die Trauernden, selig die Weinenden, sondern nur noch: Selig sind die Funktionierenden. Ist es in manchen Ländern nicht schon so weit, z.B. in China, Nordkorea, Russland. Digitale Kontrolle ermöglicht es: Selig sind die Funktionie-renden

 Rettet die Weinenden! Wenn die Autokraten aller Länder und Wirtschaftssysteme weinen könnten über sich selbst, über den Verlust ihrer Liebe, den Verlust ihrer Gefühle und über ihre armselige Vorstellung von dem, was Leben ist, dann wäre die Welt seliger, glücklicher, näher dran an der Bergpredigt.

 

Aber wir brauchen gar nicht so weit zu gehen. „Selig sind die Funktionierenden!“ Diese Maxime setzt sich bisweilen auch bei uns um. Ein Beispiel: Nach langem Leidensprozess war ein vierjähriges Kind an Leukämie gestorben. Ein halbes Jahr später machte der Betrieb des Vaters dieses Kindes einen Betriebsausflug. Ein Kollege fragte den Vater, warum er denn nicht mitfahren wolle. Der antwortete: Ich kann das noch nicht wegen der Trauer um Noah. Darauf der Kollege: Ach, das ist doch schon so lange her. Selig sind die Funktionierenden. Schafft die Tränen ab.

 

Dass Jesus diese Worte der Seligpreisungen von einem Berg sagt, hat für mich auch eine symbolische Bedeutung. Trauer, Tränen brauchen Orte der Höhe, an denen Menschen herausgehoben werden können aus den sie ständig überflutenden Gefühlen des Schmerzes und des Leides, Orte, an denen sie geachtet werden, Orte eben bei Menschen mit der Höhe des Herzens, bei Freundinnen und Freunden, bei Trauer-begleitenden wie Ihnen, bei Seelsorgenden, wo auch immer; manchmal auch stille Orte, in Kirchen, in der Natur,auf einem wirklichen Berg, im Hören einer Musik…

In der Kapelle eines Altenheimes sah ich einmal vor in der Kapelle einen Krug stehen mit der Aufschrift des Psalmwortes: „Ich sammle deine Tränen in einem Krug.“ Neben dem Krug stand eine Kanne mit Wasser. Ein Schild lud Bewohner*innen, Besucher*innen und Mitarbeitende ein, verbunden mit einer persönlichen Bitte einen Schluck Wasser in den Krug zu gießen. Der Krug war an diesem Tag schon richtig gut gefüllt. Tränen wollen fließen und nicht versteinern.

 

Das Lied von der Anderwelt

 Es gibt einen See in der Anderwelt,

drin sind alle Tränen vereint,

die irgendjemand hätt‘ weinen sollen

und hat sie nicht geweint.

 

Es gibt ein Tal in der Anderwelt,

da gehen die Gelächter um,

die irgendjemand hätt‘ lachen sollen

und blieb statt dessen stumm.

 

Es gibt ein Haus in der Anderwelt,

da wohnen wie Kinder beinand‘

Gedanken, die wir hätten denken sollen

und waren‘ s nicht imstand.

 

Und Blumen blühn in der Anderwelt,

die sind aus der Liebe gemacht,

die wir uns hätten geben sollen

und haben‘ s nicht immer vollbracht.

 

Es gibt einen Spielplatz in der Anderwelt,

da spielen die Kinder die Spiele vollkommen,

die sie hier hätten spielen sollen,

und sind nicht mehr dazu gekommen.

 

Und kommen wir einst in die Anderwelt,

viel Dunkles wird sonnenklar,

denn alles wartet dort auf uns,

was hier nicht möglich war.

                                                        Michael Ende


2023-11-01 als pdf 

 

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