Predigt vom 24.9.2023 – Jeder ist bedürftig in seiner Seele

2023-09-24- 25.- So.i.J. Mt 20, 1-16

Jeder ist bedürftig in seiner Seele

Liebe Schwestern und Brüder,

weil er aus der Tiefe seiner Seele heraus dachte und glaubte, hat kaum einer den Mystiker aus Nazareth so gut verstanden wie der russische Dichter Michailowitch Dostojewski. In seinem Roman Schuld und Sühne, der in Russland des 19. Jahrhunderts spielt, hat er das heutige Evangelium von den Arbeitern im Weinberg in folgende Geschichte übersetzt.

„In St. Petersburg“, so heißt es da, „lebte ein Mann namens Marmeldow, ein hoffnungsloser Trinker. Er hatte elf hungernde Kinder und seine Frau, Katharina Iwanowna, war bis auf den Tod an Tuberkulose erkrankt. Die älteste Tochter, gerade 17 Jahre alt, Sonja mit Namen, hatte den gelben Schein. Alle Dirnen im damaligen St. Petersburg hatten den gelben Schein. Für Sonja war Prostitution die einzige Möglichkeit, genügend Geld zu verdienen, um die Familie wenigstens vor dem Schlimmsten zu bewahren.

Eines Tages nun saß Marmeldow wieder einmal in irgendeiner Spelunke der Stadt. Seine Flasche Branntwein war leer, und er verlangte eine neue. Aber der Wirt weigerte sich. „Hab Mitleid mit mir“, flehte Marmeladow. Da wurde der Wirt böse: „Mitleid, ich mit dir Mitleid? Mit solch verkommenen Gestalten kann man doch kein Mitleid haben!“ Da stand – wie von einer Eingebung erfüllt – Marmeladow plötzlich auf, warf den Tisch um und schrie in den Raum hinein: „Meinst du denn, du Schacherer von Wirt, du hättest mich mit deinem Branntwein erfreut?! Bitternis, Verzweiflung, suchte ich auf dem Grund der Flasche, und weiß Gott, ich habe sie dort gefunden. Mitleid, nein Mitleid kannst du mit solchen Leuten wie mir nicht haben.

Erbarmen, Erbarmen kann sich unserer nur einer, der, der sich aller Menschen erbarmt. An jenem Tag, wenn die Menschen vor ihm versammelt sind, und er sein Gericht hält, dann wird er zu uns sagen: „Komm auch Du, du Säufer, du Nichtsnutz. Und komm auch Du Sonja, Du Tochter, die sich für ihre Geschwister geopfert hat; Kommt auch ihr her, ihr Schwachen, ihr Zöllner, ihr Dirnen und Sünder, ihr seid gleich dem Vieh. Ihr habt gelebt wie die Tiere, aber jetzt seid ihr Menschenkinder, Gotteskinder.“

Und dann werden die anderen protestieren, die Weisen, die Klugen, die Frommen: „Herr, warum auch die? Warum dieser Abschaum?“ Und er wird ihnen antworten: „Darum, ihr Weisen und Klugen, nehme ich sie zu mir, weil keiner von ihnen je geglaubt hat, dass er dieser meiner Liebe würdig sei. Oder seid ihr neidisch, weil ich gütig bin.“

Und dann werden wir niederfallen, meine Tochter Sonja und ich, und wir werden weinen, und wir werden alles verstehen. Und er wird uns segnen, und wir werden zum ersten Mal glücklich sein.“

 

Liebe Mitchristen, in der letzten Verzweiflung, als die Demütigung nicht mehr zu ertragen ist, fasst den in seiner Schuld am Boden zerstörten Menschen Marmeladow der Mut, sich zu erheben gegen die, die sich immer schon für was Besseres hielten und die ihren Selbstwert daher beziehen, dass sie sich über andere erheben. Sie können demütigen, aber demütig können sie selbst nicht mehr sein. Denn sonst könnten sie sich ja auf Augenhöhe bringen mit den am Boden Zerstörten.

 

Im Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg macht Jesus diesen sog. besseren Leuten klar: Kein Mensch ist bei Gott für immer abgeschrieben, und wenn er noch so sehr im Sumpf steckt. Und die Tagelöhner, die höchstens auf dem letzten Drücker eine Chance auf Arbeit haben, wie viele Tagelöhner nicht nur in der Vierten Welt, die sind vor Gott genau so viel Wert wie die anderen. Denn Gott rechnet nicht ab nach Leistung und Tarifvertrag, sondern nach dem, was einer braucht. Und die von ganz unten haben auch eine ganze Familie zu versorgen, haben vielleicht weinende Kinder.

 

Es geschah in einer Stadt nicht weit von hier. Da lebte einen Familie mit sechs Kindern. Der Ehemann und Vater hatte sich mit seinem Handwerksbetrieb völlig verspekuliert. Die Familie geriet in den Ruin, die Schulden wuchsen ihr über den Kopf. Schon bald musste sie aus dem schönen Eigenheim ausziehen in eine kleine Etagenwohnung. Dann konnten sie es sich nicht mehr leisten, alle Lebensmittel bei Aldi oder Lidl einzukaufen, sie mussten zur Tafel der Caritas gehen. Eines Abends in der Dunkelheit schlich sich die Frau der Familie zum Pfarrer und bat ihn: Können Sie mit den Frauen der Caritas nicht vereinbaren, dass ich außerhalb der normalen Öffnungszeiten zur Tafel kommen kann, damit mich keiner sieht. – Damit mich keiner sieht. Die Frau hat Angst, dass ihre Familie ihr Ansehen verliert. Wieviel Demütigung muss diese Frau ertragen und wieviel Mut und Demut aufbringen, um ihre Familie durchzubringen. Ich kann dieser Frau nur sagen: Sie mögen ihr ganzes Vermögen verloren haben, aber ihr Ansehen, ihre Würde haben sie ganz gewiss nicht verloren. Ich habe große Achtung vor Ihnen. Vielleicht haben Sie nicht das Geld, um ihren Kindern neue Schuhe zu kaufen, und die jüngeren Kinder müssen die Klamotten von den älteren auftragen und werden dafür von den anderen Kindern verspottet, vielleicht können Sie abends nicht einschlafen, weil sie nicht wissen, wie sie morgen den Haushalt geregelt kriegen, aber denken sie daran: Sie alle sind und bleiben Menschenkinder, Gotteskinder. Denn Gott schaut nicht auf den Erfolg, die Leistung, das Guthaben eines Menschen, sondern allein auf das, was er braucht, und das ist Ansehen, Liebe, Würde.


2023-09-24 als pdf

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