Predigt vom 9.6.2019 – Kopf hoch

2019-06-09_Pfingsten Schrifttext Joh 14 ff

Kopf-Hoch

Liebe Schwestern und Brüder,

„Kopf hoch, sonst siehst Du die Sterne nicht.“ So lautet ein Sprichwort.

Als meine Eltern mich mit 10 Jahren an den Pforten eines Internats abgaben, in dem ich die nächsten Jahre bleiben sollte, sagten sie: Kopf hoch, Junge.

In jenen Jahren fiel mir das Tagebuch der Anne Frank in die Hände. Anne Frank wäre am kommenden Mittwoch, 12. Juni, 90 Jahre geworden, wenn sie nicht mit 15 Jahren im Konzentrationslager Bergen Belsen ums Leben gekommen wäre.  Über zwei Jahre hatte sich die Familie Frank im Hinterhaus eines Bürogebäudes in Amsterdam versteckt. Acht Menschen lebten auf 50 Quadratmetern. Tagsüber durfte man nur flüstern und sich kaum bewegen, damit die Leute im Büro nichts merkten. Anne flüchtete sich in ihr Tagebuch zu ihrer imaginären Freundin Kitty. Nur so war dieses Leben auszuhalten, verlor sie nicht den Kopf. Einmal schreibt sie in ihr Tagebuch: „Liebe Kitty, es beklemmt mich doch mehr als ich sagen kann, dass wir niemals hinaus dürfen“, Der Blick aus dem Dachfenster auf den blauen Himmel, auf den Mond und die Sterne, auf  den kahlen Kastanienbaum wird für mich zum Luxus.“

Kopf hoch, sonst siehst Du die Sterne nicht. Dass der Blick aus einem Dachfenster zum Luxus werden kann, das ist für uns, die wir als freie Menschen leben, unvorstellbar.

Ich habe einmal den Satz gelesen: Glauben ist, wenn Enge weit wird. Dafür ist das Gründungsfest unserer Kirche, Pfingsten das deutlichste Zeichen. Jünger, die eingeschlossen waren in die Enge ihrer Angst, fassen plötzlich Mut, sprengen die Fesseln ihrer Depression und beginnen eine Sprache zu sprechen, die alle verstehen.

Anne Frank hat den Glauben nicht verloren, den Glauben an Gott nicht und auch nicht an die Zukunft. Einmal schreibt sie: Es wird der Tag kommen, da werden wir nicht mehr Juden sein, da sind wir wieder Menschen. Dann ist Pfingsten, wenn es heißt: Wir sind doch alle Menschen, egal welchen Geschlechts, welcher Hautfarbe, Nationalität, welcher Herkunft, welcher Sprache. Heute heißen die Menschen nicht mehr wie in der Lesung Parther, Meder, Elamiter…, sondern Europäer, Afrikaner, Asiaten, Arme, Reiche, Kranke, Gesunde… aber es ist der gleiche Himmel, unter dem sie alle leben und alle sind sie Ebenbild eines Gottes.

Der Blick aus dem Dachfenster half Anne dabei, ihren Glauben nicht zu verlieren. Kopf hoch, sonst siehst Du die Sterne nicht. Mich hat das als Kind sehr berührt und das Leben im Internat erleichtert.

Denn wenn mich nachts das Heimweh plagte, schlich ich mich manchmal heimlich ans Fenster des Schlafsaals und hatte Glück, wenn die Sterne strahlten. Dann dachte ich: „Es ist der gleiche Mond, es sind die gleichen Sterne, die über meinem Elternhaus leuchten wie hier durch dieses Fenster im Internat. Diese Gewissheit schaffte Verbindung, tröstete.

„Kopf hoch, sonst siehst Du die Sterne nicht.“  Mir ist dieser Satz begegnet, als wir nach dem letzten Lichtblickgottesdienst für Trauernde in der Jesuitenkirche in Büren im Pfarrheim zusammensaßen. Ein Vater, der durch einen Autounfall seine 21-jährige Tochter verloren hatte, erzählte, dass dieser Spruch ihm in seinen  schwersten Zeiten oftmals Hilfe ist. Ich stellte mir dann vor, wie auch dieser Vater die Treppe seiner Wohnung zum Dachboden emporsteigt und durch das Dachfenster die Augen seiner Seele in den Sternenhimmel taucht. Verbindet nicht auch das uns mit Menschen, die von uns gehen mussten? Es ist ein pfingstlicher Himmel, der von der Zeit bis in die Ewigkeit reicht.

„Die Himmel erzählen die Herrlichkeit Gottes…“ So heißt es im Psalm 19. Blicken wir in den Himmel, dann sind wir Gott nahe, der uns sagen will: Das Leben ist unendlich viel größer als das Schicksal, das Du gerade erleidest oder die Freude, die dich übermannt. Du bist und bleibst aufgehoben in einem großen Plan des Lebens und du bist verbunden mit allen Menschen dieser Erde, die ausnahmslos deine Schwestern und Brüder sind. Wenn diese Erkenntnis die Erde ergreift und ihr Antlitz verändert, dann ist wirklich Pfingsten. Amen.

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