Liebe Schwestern und Brüder,
es scheint so, dass wir heute und im gesamten nächsten Jahr vor entscheidenden Wahlen stehen, in Deutschland, in den USA.
Philosophen, Wissenschaftler fordern heute: Demokratie braucht die Resonanz der Religion, braucht die Antwort des Gewissens
„Ich war ungefähr acht Jahre alt. Mein Freund Heinrich und ich“, so berichtet er, „hatten uns Schleudern aus Gummischnüren gemacht, mit denen man kleine Steine schleudert. An einem Sonntagmorgen sagte Heinrich: `Komm Albert, wir gehen und schießen auf Vögel`. Dieser Vorschlag war mir schrecklich. Aber ich wagte nicht zu widersprechen. Aus Angst, er könnte mich auslachen. An einem kahlen Baum legte Heinrich einen Kiesel in die Schleuder. Seinem gebieterischen Blick gehorchend, tat ich unter furchtbaren Gewissensbissen dasselbe. Doch ich nahm mir fest vor, daneben zu schießen. In demselben Moment fingen die Glocken unserer Kirche an zu läuten. Für mich war es eine Stimme aus dem Himmel. Ich warf die Schleuder weg, scheuchte die Vögel auf und floh nach Hause. Seitdem denke ich beim Läuten der Kirchenglocken dankbar daran, wie sie mir das Gebot ‚Du sollst nicht töten’ ins Herz geläutet haben“. Im Rückblick auf dieses Erlebnis sagt Albert Schweitzer: „Von jenem Tage an habe ich gewagt, mich von der Menschenfurcht zu befreien. Wo meine innerste Überzeugung mit im Spiele war, gab ich jetzt auf die Meinung anderer weniger als vorher. Ich verlernte die Scheu vor dem Ausgelacht werden“. (Albert Schweitzer, Aus meiner Kindheit und Jugendzeit, C. H. Beck, München 2015, S. 36)
Warum braucht Demokratie die Resonanz der Religion? Weil Religionen das Läuten der inneren Stimme erkennen. Nun sagt Jesus im heutigen Evangelium: In Deinem Inneren, da wohnen aber nicht nur gute Eigenschaften wie Nächstenliebe, Wahrheit, Klugheit, Geduld, Mitleiden.
Da gibt es auch noch ganz andere Kellerbewohner wie Neid, Verleumdung, Wut, Arroganz, Eifersucht, Hass, Lüge, Ärger oder Sucht. Jesus nennt im Evangelium noch mehr. Als 8-jähriger macht Schweitzer die Erfahrung: In mir lebt auch der Trieb, andere zu verletzen, sogar Vögel, Tiere zu töten. Und die Angst, von anderen verspottet zu werden ist stärker als die Nächstenliebe.
Seit den Tagen unserer ersten Kinderbeichte leben wir tief uns mit dem Kampf zwischen Gut und Böse und fragen uns, wie man diese unliebsamen Eigenschaften, diese Untermieter austreiben kann. Wir haben gelernt, ihnen mit moralischen Appellen zu begegnen: „Du darfst nicht; Du sollst nicht; Halte diese Gebote….“ Die meisten von uns kennen das: Wir sind als Kinder zur Beichte gegangen und haben uns ganz fest vorgenommen, nicht mehr zu lügen, zu streiten, über andere herzuziehen, Tiere nicht zu quälen. Aber die besten Vorsätze waren oft nur von kurzer Dauer. Warum sind diese Versuche so erfolglos? Der Verstand kann nicht ausmerzen, was das Herz nicht hergeben kann. Auch die Kellerbewohner sind Teile unserer Seele. Beim geringsten Versuch, sie zu vernichten, beginnen sie zu kämpfen. Will man z.B. die Wut abschaffen, dann wird sie erst richtig wütend.
Vielleicht sollten wir sie eher ans Licht holen und feststellen: Das bin ich auch; ich kann auch verletzen, neidisch, wütend sein, aus Angst schweigen. Das ist der Weg Albert Schweitzers, der sich dann aber fragt: Was ist meine innerste Überzeugung? Und die heißt: Mut statt feiger Angst, leben lassen, statt verletzen, die Wahrheit sagen, statt zu verleumden. Gegensätze durch Gegensätze ausgleichen, so nennt Hedwig von Andechs das.
Es wäre schön, wenn Wähler sich an der Wahlurne fragen: Was ist meine innerste Überzeugung? Was sagt mir mein Gewissen? Folge ich den Populisten und Hasspredigern, die nur Spaltung und Gehässigkeit stärken oder sehe ich auch Möglichkeiten, das Gute zu fördern: Gerechtigkeit, Frieden, Bewahrung der Schöpfung
Beispiele von Kämpfern stellvertretend, die für Demokratie kämpften:
Friedensnobelpreis ist im Jahr 2023 an Narges Mohammadi aus dem Iran gegangen, an eine mutige Kämpferin der Aktion „Frauen. Leben. Freiheit.“
Maria Kolesnikova, Flötistin und Dirigentin im Orchester, Friedensaktivistin, jetzt erbärmliche Strafkolonie
Igor Lednik, der sich in seinem Protest auf das Budapester Abkommen für die Demokratie berief und darum im Februar 2024 in einem russischen Straflager umgebracht wurde
Alexandra Skotschilenko, die in einem Moskauer Lebensmittelgeschäft sagte, dass der Ukrainekrieg Unrecht sei, und verraten wurde und nun in einem Straflager gesundheitlich am Ende ist
Malala Yousafzai – 12 Jahre
Leider hat die Kirche derzeit ihre Vorbildfunktion verspielt aber ich hoffe, dass mit Gottes Hilfe eine Gewissensbildung noch durch andere Faktoren beeinflusst werden kann.