Predigt vom 5.9.2021 – Fühlen

2021-09-05-23.S_i._J._Fühlen
Wer nicht hören will muss fühlen
Mk 7,31-37

Liebe Schwestern und Brüder,
„wer nicht hören will, muss fühlen.“ Als Kinder haben vielleicht viele von
uns diesen Satz mehrfach am Tag gehört, von ihren Eltern, von den
Lehrern? War das Inhalt einer schwarzen Pädagogik nach dem Vorbild
von Struwwelpeter, die nicht selten mit körperlichen Strafen arbeitete?
Oder stand dahinter die Erkenntnis, dass der Mensch viel stärker über
das Gefühl als über das Hören und die verstandesmäßige Erkenntnis
lernt. Und dieses Gefühl ist vorwiegend ein seelisches Fühlen. Wenn
man z.B. bei uns zu Hause den Teller nicht leer aß, das Schulbrot
wegwarf oder im Tornister verschimmeln ließ, dann musste man fühlen,
dass das nicht in Ordnung war und durfte z.B. abends nicht am
Abendmessen teilnehmen und musste hungrig ins Bett gehen. Ich seh
mich noch des Nachts in die Küche schleichen und heimlich ein Stück
Brot aus dem Schapp holen. Aber schlimmer als der körperliche Hunger
war die seelische Beschämung, dieses Gefühl, ausgegrenzt zu sein.
Wer nicht hören will, muss fühlen.
Psychologen sagen uns heute, der Mensch besteht zu 90 % aus
Unterbewusstsein und nur zu 10 % aus Bewusstsein. Das heißt, er wird
viel stärker von seinen Gefühlen gesteuert als vom Verstand. Was wir
verstandesmäßig wissen, setzen wir noch lange nicht um, wenn es uns
nicht im Gefühl berührt. Im Verstand wissen wir heute schon lange, dass
wir so nicht weiterleben können, dass wir nicht zusehen dürfen, dass
jeden Tag 120 Tier- und Pflanzenarten sterben, der Klimakollaps vor der
Tür steht, dass wir unbedingt unseren Lebensstil ändern müssen. Jeder
weiß das, aber nur ganz wenige ziehen daraus Konsequenzen. Warum
nicht? Weil wir es wissen, aber nicht fühlen, also davon im Gefühl
berührt sind.
Vor Jahren war ich einmal mit einer Gruppe in Afrika im sehr heißen
feuchttropischen Gebiet unterwegs. An einem Tag hatten wir uns
morgens Butterbrote für eine Wanderung geschmiert. Als wir die Brote
mittags auspackten, waren die meisten davon in dem feuchttropischen
Klima verschimmelt. Einige von uns warfen diese Brote in einen
Mülleimer. Als wir weitergingen, näherten sich vorsichtig einige
afrikanische Kinder dem Mülleimer, nahmen die Brote heraus, packten
sie sorgfältig ein und zogen damit freudestrahlend nach Hause. Das hat
mich so berührt, dass ich seitdem immer ein schlechtes Gefühl habe,
wenn ich Lebensmittel entsorgen muss.

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