2020-06-07_Dreifaltigkeit_Erschöpft
Thema: Erschöpft
Liebe Schwestern und Brüder,
Ich war am letzten Sonntag in einer Familie, die vier Kinder im Alter zwischen 6 und 12 Jahren hat. Die Mutter sagte: „Also nach inzwischen zehn Wochen Corona sind wir aneinander erschöpft.“ Mit anderen Worten meinte sie wohl: „Wir gehen uns gewaltig auf den Geist.“ Ich fand das einen interessanten Ausdruck: „Wir sind aneinander erschöpft.“ Das heißt doch: Wir haben alle Möglichkeiten unserer Beziehungen ausgeschöpft im Reden, mit Spielen, bei den gemeinsamen Mahlzeiten, beim Homelearning…“ Jetzt sind wir erschöpft, müde, leer, ausge-powert… sind gereizt, werden aggressiv, ungerecht im Umgang miteinander……
Ein berühmtes Beispiel für solches „Aneinander erschöpft sein“ fand ich in dem wohl berühmtesten Tagebuch der Welt, in dem der Anne Frank. Anne Frank wäre am letzten Donnerstag, 04. Juni, 91 Jahre geworden, wenn sie nicht mit 15 Jahren im Konzentrationslager Bergen Belsen ums Leben gekommen wäre, weil sie Jüdin war. Über zwei Jahre hatte sich die Familie Frank im Hinterhaus eines Bürogebäudes in Amsterdam versteckt. Acht Menschen lebten auf 50 Quadratmetern. Tagsüber durfte man nur flüstern und sich kaum bewegen, damit die Leute im Büro nichts merkten. Anne flüchtete sich in ihr Tagebuch, erfand sich eine imaginäre Freundin mit Namen Kitty. Nur so war dieses Leben auszuhalten, verlor sie nicht den Kopf. Einmal schreibt sie in ihr Tagebuch: „Liebe Kitty, es beklemmt mich doch mehr als ich sagen kann, dass wir niemals hinaus dürfen“. Dieses unglaublich wache Energiebündel von einem jugendlichen Mädchen auf so engen Raum eingesperrt. Das ging eigentlich gar nicht. Und so kam es zu einer Situation, in der es zu diesem hohen Grad aneinander erschöpft zu sein kam, was sich in schweren Verletzungen ausdrücken kann.
Liebe Kitty! Freitag, 2. April 1943
Ich habe wieder etwas Schreckliches auf meinem Sündenregister. Gestern abend wartete ich, dass Vater — wie immer — zum Beten und Gutenachtsegen zu mir kommen sollte, als Mutter kam. Sie setzte sich zu mir aufs Bett und fragte sehr bescheiden, zögernd: „Anne, Vater kommt noch nicht, wollen wir zusammen beten?“ „Nein, Mama“, antwortete ich.
Mutter stand auf, blieb neben meinem Bett stehen und ging dann langsam zur Tür. Plötzlich drehte sie sich um und sagte mit entstelltem Gesicht: „Ich bin nicht böse, Anne, Liebe lässt sich nicht zwingen.“ Tränen liefen über ihr Gesicht, als sie hinausging.
Ich blieb ganz still liegen und fühlte sofort, wie gemein es von mir war, sie so brutal zurückzustoßen, aber ich hätte nicht anders antworten können. Ich kann nicht heucheln und gegen meinen Willen mit ihr beten, ich kann es nicht.
Wie kommt es bloß, dass ich so abgestumpft bin gegen den Liebesbeweis meiner Mutter? Wie kommt es nur, dass sich in mir alles zusammenkrampft, wenn sie nur redet? … Am nächsten Tag merkte ich, wie sich alle mir gegenüber anders verhielten. Vater guckte mich nicht mehr an, und wenn er es doch einmal tat, las ich in seinen Augen den Vorwurf: „Wie kannst du so garstig sein und Mutter so schweres Leid antun.“ Sie erwarten, dass ich mich entschuldige. Aber ich kann es nicht. Deine Anne“
Auf engsten Raum zusammengeballt, macht unsere Psyche mit uns mitunter, was sie will. Sie macht sich Luft und das führt oft zu Verletz-ungen anderer. Was rettet uns aus dem Gefängnis der eigenen Seele?
Im Evangelium heißt es: Gott hat seinen Sohn in die Welt gesandt, uns zu retten, und das heißt bisweilen, uns vor uns selbst zu retten.
Wir sind aneinander erschöpft
Anne Frank hatte ihre Methode, sich aus der Enge zu retten.
Auch wenn das hier gerade beim Abendgebet für die ganze Familie gewaltig schief geht, so waren doch in diesem über 2-jährigen Versteck für die Familien die regelmäßigen Rituale wichtig. Anne hielt sich fest auch an Gott. An einer Stelle schreibt sie: „Es wundert mich, dass ich trotz allem den Glauben an das Gute im Menschen und an Gott noch nicht verloren habe.“ Glauben ist, wenn Enge weit wird.
Es gibt ein Leben, das viel größer ist als der Schmerz, den ich jetzt erlebe.
Im April 1944 wohl schon ahnend, dass ihr Versteck bald verraten wird, schreibt sie: „Ich habe eine wahnsinnige Angst vor den Konzentrationslagern. Aber ich fühle auch, dass ich schon viel mutiger geworden bin, seit ich weiß, dass ich in den Armen Gottes liege.“
Das schreibt eine 15-jährige. Tiefer kann man Dreifaltigkeit nicht verstehe, als ein Beziehungsnetz in das man sich fallen lassen kann.
Ich schon viel mutiger geworden bin, seit ich weiß, dass ich in den Armen Gottes liege.“
„Also nach inzwischen zehn Wochen Corona sind wir aneinander erschöpft.“
Dies alles könnten wir doch auch aus dieser Coronazeit lernen:
Glaube macht Enge weitmacht, und er hilft uns letztlich, uns vor uns selbst und auf Gott hin zu retten.Amen.