Predigt vom 10.11.2019 – Grenzen überwinden

2019-11-10_ 32. So._i._J. – Thema: Grenzen überwinden

Liebe Schwestern und Brüder,

wenn ich diesen Draht gestern vor 30 Jahren angefasst hätte, dann lebte ich jetzt nicht mehr. Denn da war er noch Bestandteil der innerdeutschen Grenze. Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs haben Christen aus Heiligenstadt in Thüringen aus Teilen dieses Zaunes Kreuze gemacht. Unten sehen sie einen Bestandteil des Lamellenzauns, oben drüber gleichsam wie eine Dornenkrone den Stacheldraht.

Mit fiel in jener Nacht der Psalm 126 aus der Bibel ein, der geschrieben wurde, als die Israeliten im 6. Jahrhundert vor Christus nach über 60- jähriger Gefangenschaft in Babylon als ein kleiner Haufen zurückkehrten nach Jerusalem. Da heißt es:

Als der Herr das Los der Gefangenschaft Israels wendete,

da waren wir alle wie Träumende.

Da war unser Mund voll Lachen

und unsere Zunge voll Jubel.

Da sagte man unter den andern Völkern:

„Der Herr hat an ihnen Großes getan.“

Mir fiel ein:

Als der Herr das Los der Gefangenschaft von 17 Millionen Deutschen wendete, da waren sie auch wie Träumende, da waren ihre Gesichter voller Lachen, und ihre Füße tanzten auf der Mauer, an der kurz zuvor noch Menschen getötet worden waren, da sangen sie Jubellieder wie einst zu Tochter Zions Zeiten und tranken gemeinsam den Sekt der Freude, denn die, die mit Tränen gesät hatten, durften jetzt mit Jubel ernten. Und die anderen Völker, die Völker Großbritanniens, die Völker Amerikas, die Völker Afrikas und Asiens, die so lange auf die gespaltene Stadt Berlin und das geteilte Europa geschaut hatten, sagten:

Seht sie euch an, Großes ist an ihnen geschehen, nie für möglich Gehaltenes, nie Geglaubtes ist passiert. In dieser Nacht sagte man nicht mehr „die aus dem Osten und die aus dem Westen“. In dieser Nacht sagte man nur noch: Wir sind alle Menschen. In einem Wimpernschlag der Geschichte waren plötzlich alle Grenzen aufgehoben. Denn dies war die Heilige Nacht der Deutschen, sieben Wochen vor Weihnachten.

Gläubige Menschen im ehemaligen Ostdeutschland sagen heute noch, dass dies geschehen konnte, verdanken wir unserem Glauben, dem Glauben an uns selbst und dem Glauben an Gott. Und waren sie nicht tatsächlich monatelang, jeden Montag, von Kirchen ausgezogen mit Kerzen in den Händen und mit Gebeten auf den Lippen? Ein Stasigeneral sagte später: Auf alles waren wir eingestellt, auf Knüppel, Molotowkoctails, Steine, aber nicht auf Kerzen und Gebete.

Das sind Sternstunden der Menschheit, wenn die Gewaltlosigkeit stärker ist als die Gewalt, Gebet und Kerzen stärker als Ignoranz und Atheismus. Noch in den Jahren vor dem Fall der Grenze waren von den LPG`s, den landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften Erntewagen mit Transparenten ausgefahren, die die Aufschrift trugen; Ohne Gott und Sonnenschein fahren wir die Ernte ein. Daraufhin haben einige mutige Kirchengemeinden an die Kirchtürme Gegentransparente mit der Aufschrift gehängt: Ohne Sonnenschein und Gott geht die DDR bankrott. Und so ist es gekommen.

Aber nicht nur Kerzen und Gebet haben die Grenzen überwunden. Viel früher war es schon die Natur. Ja, die innerdeutsche Grenze stand für Trennung und Tod. In ihrem Schatten fanden aber viele bedrohte Tiere und Pflanzen ein Zuhause. Heute gehört das „Grüne Band“, das die ehemalige Grenze über 1300 km überzieht, zum „Nationalen Naturerbe“. Fauna und Flora haben sich von der Diktatur nicht verbieten lassen zu wachsen. Naturschutzgruppen ringen seit Jahren darum, dass dieses grüne Band als Biotop bestehen bleibt und nicht auch der Kommerziali-sierung zum Opfer fällt.

Gerade in diesen Zeiten, da der Klima- und Umweltschock uns so sehr in die Glieder fährt, ist die ehemalige Grenze ein Fanal: Was die Diktatur der Kommunisten nicht geschafft hat, das darf die Diktatur des Konsums und einer rücksichtslosen Ausbeutung der Ressourcen nicht nachholen. Wir müssen beginnen, der Natur ihre Ruhe zu lassen und nicht mehr von ihr zu nehmen, als wir zum Leben brauchen.

Ich denke, gerade am Hubertustag sind Sie als Jäger, Heger und Pfleger des Waldes und der gesamten Landschaft dafür ein gutes Beispiel. Und so manche Musikstücke des Bläserchors Salzkotten flüstern uns doch in diesem Gottesdienst die Aufforderung ins Ohr: Mensch sei achtsam; gehe achtsam um mit der Natur, achte auf das Zusammenspiel von Menschen, Fauna und Flora, und sei dir gewiss: Du bist ein Teil der Natur. Denn wie der große Arzt von Lambarane und Friedensnobelpreisträger Albert Schweitzer einst sagte: Ich, der Mensch, ich bin Leben inmitten von Leben das Leben will. Diese Botschaft ist heute dringlicher denn je. Amen.

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