2024-12-01-1. Advent Lukas 21,25-28.34-36
Nawallny – Bleiben Sie wach
Liebe Schwestern und Brüder,
mit der Vision einer totalen Apokalypse, dem Zusammenbruch aller Systeme, der Erschütterung selbst des Himmels und der Erde beginnt der Advent. Die Völker sind ratlos und bestürzt. Sie schauen an diesem Wochenende in diesem Seminar dorthin, wo diese Texte entstanden sind, nach Palästina und Israel. Und wieder ist es so: Ratlosigkeit und Bestürzung überall. Was empfiehlt der Evangelist Lukas in dieser Situation? Wachet und betet! Klingt das nicht lapidar frömmelnd, Rückzug in die Innerlichkeit, Kopf in den Sand stecken. Wie die drei Affen: Nichts sehen, nichts hören, nichts sagen.
Wachet!
Bleiben sie wach, bleiben sie wach…Das war ein zentraler Ruf in der Lebensgeschichte eines Mannes, der im Februar dieses Jahres in einer Strafkolonie am Polarkreis ermordet wurde, Alexej Nawallny.
Bleiben Sie wach… das schreibt er in der Autobiographie mit dem Titel Patriot, die vor vier Wochen erschienen ist, waren die letzten Worte einer Frau, die er im Flugzeug nach dem schon lebensgefährlichen Nowitschokanschlag am 20. August 2020 hörte.
Zur Genesung war er später in Deutschland in Sicherheit und ging 2021 freiwillig nach Russland zurück, um – wie jetzt zu lesen ist – im Widerstand glaubwürdig zu bleiben. Er wusste, dass er in der Haft sterben würde. Schlimmste Bedingungen waren das. Er verbrachte in den Jahren bis Febr. 2024 allein 300 Tage in Einzel-Straf-Haft in einer „Hundehütte aus Beton“, wie er seine Zelle nannte. Einzelhaft zumeist, war sie auf direkten Befehl aus dem Kremel angeordnet,für Lächerlichkeiten wie z.B. einem weggeplatzten Knopf auf seiner viel zu engen Jacke.
Aber all das konnte ihn nicht brechen. In den Aufzeichnungen schreibt er immer wieder: „Ich muss aufpassen, dass ich nicht verbittere und in Zynismus verfalle.“ Woher hat dieser Mann diese Kraft. Er hält sich fest vor allem an der Liebe zu seiner nicht weniger beeindruckenden Frau, der Hoffnung auf Veränderungen in seinem Land und schließlich auch an seinem Glauben. Das Buch, das er hat, ist die Bibel. Er beschreibt, wie er im Hungerstreik seine Begeisterung für Jesus und die Bergpredigt entdeckt hat, vor allem für die Zusage: „Selig, die hungern nach Gerechtigkeit, denn sie werden satt.“ Es geht nicht nur um meinen Hunger, es geht um den Hunger ganz Russlands, schreibt er.
Ein Mithäftling hat ihm heimlich eine kleine Ikone vom Erzengel Michael, dem Patron Russlands, zugesteckt, die er immer bei sich trägt und sich daran stärkt. Dazu schreibt er: „Mir war danach, zu Überwachungs-kamera zu gehen, die Ikone vor die Linse zu halten und den Wärtern zuzubrüllen: „Seht her, ich bin nicht allein!“ Natürlich wollte er nicht riskieren, dass ihm die Ikone genommen würde. Und tat das nicht.
Der Erzengel Michael ist eine mythische Figur, ein Archetyp tief in unserer Seele, der dafür steht, dass es in uns eine überirdische, eine göttliche Kraft gibt.
Wacht auf! Bleiben Sie wach! Bleiben Sie wach! Bis zur letzten Minute seines Lebens ist Nawallny wach geblieben und nicht müde geworden, Korruption und Kriminalität der herrschenden Schicht seines Landes zu entlarven, oft auf sarkastische Weise.
Kürzlich habe ich mit einer Bekannten über diese Biographie gesprochen. Die sagte: Nawallny, der war doch verrückt, wie konnte er nur nach Russland zurückkehren, wo er doch bei uns in absoluter Sicherheit war. ER gibt die Antwort: Ich wollte glaubwürdig bleiben. Wäre ich nicht zurückgegangen, hätte ich den Glauben an mich, meine Identität und damit meine Würde verloren. Das erinnert mich an Dietrich Bonhoeffer, der 1938 in den USA in Sicherheit war vor den Nazis. Aber er war in dieser Sicherheit totunglücklich. Er konnte nicht von außen zusehen, wie seine Heimat zusammenbrach und Freunde in Not gerieten. Er ging aufs Schiff zurück, wohl wissend, dass sie ihn irgendwann umbringen würden. Aber er war wieder bei sich, bei seinem Glauben, bei seiner Leidenschaft, bei seiner Würde.
Ich glaube, es gibt in jedem Menschen von uns eine innere Leidenschaft. Wenn wir der nicht folgen, sie vielleicht der Bequemlichkeit opfern, dann können wir uns eines Tages selbst nicht mehr in die Augen schauen. Lukas sagt das im Evangelium vielleicht in einer für uns antiquierten Sprache: Wachet und betet, damit ihr in allem, was geschieht…vor euch selbst und vor den Menschensohn hintreten könnt.
Weihnachten geht es um Mensch-Werdung, also um die Menschen-söhne und die Menschentöchter. Menschsein, das ist unsere Identität unsere Würde.
Was heißt das jetzt für uns heute, für Ihre Tagung?
Wir sind nach wie vor ratlos und bestürzt wie die Völker im Lukasevangelium. Aber allein die Tatsache, dass sich so viele Menschen auf den Weg zur Hegge machen, um vielleicht auch solidarisch zu sein mit all den Menschen, die in Israel, Palästina, Ukraine, Russland und oder sonst wo so fürchterlich leiden müssen, zeigt doch, dass sie einem inneren Impetus der Menschlichkeit folgen. Sie hätten doch auch Fußball gucken oder auf Weihnachtsmärkte gehen können. Klar, das darf auch sein. Aber das allein, erfüllt das? Ist das nicht Weihnachten, dass Gott uns an sein Herz nimmt und sagt: Du in mir, das ist Menschsein. Ich bin deine Leidenschaft. Das ist Deine Identität, deine Würde. Amen.