2024-11-10-32. Sonntag im Jahreskreis 2024
Markus 12, 38-44
Liebe Schwestern und Brüder,
in der patriarchalischen Gesellschaft des damaligen Israel war es ein ganz schweres Schicksal, Witwe zu werden. Da Frauen völlig in ihrer Existenz vom Mann abhingen, blieb eine Witwe nur, bei einem Sohn oder dem Vater unterzukommen, wenn der Ehemann gestorben war. War beides nicht möglich, dann war die Witwe völlig mittellos.
Da kommt jetzt eine solche Witwe zum Opferkasten des Tempels und wirft zwei kleine Münzen hinein. Ein Theologe hat berechnet, dass eine kleine Münze nach unserem Geld etwa 5 Cent wären. Also 10 Cent ist das ganze Vermögen dieser Frau, das sie jetzt auch noch vorbehaltlos abgibt. Ist das nicht ein Witz? Man fragt sich automatisch: Wovon lebt denn diese Frau jetzt? Die Bibel gibt darüber überhaupt keine Auskunft.
Wir ahnen, dass es sich hier um eine Symbolgeschichte handelt, die sagen will, was das eigentliche Vermögen des Menschen ist, die andere Form von Reichtum. Mir fällt zu diesem Evangelium das zur Zeit viel gelesene Buch von Vivian Dittmar ein: Echter Wohlstand. Gerade ist in Deutschland eine Regierung zerbrochen auch an der Frage: Wie sichern wir den Wohlstand für das Volk? Gemeint ist fast ausschließlich materieller monitärer Wohlstand, Geldwohlstand.
Vivian Dittmar meint, diese einseitig materielle Form von Wohlstand ist nicht zukunftsfähig. Spüren wir das im Grunde nicht alle?
Dittmar hat einige Jahre unter Eingeborenen auf der Insel Bali in Indonesien gelebt, in einer totalen Mangelgesellschaft. Sie hat dort Menschen erlebt, die buchstäblich nichts hatten als die ärmliche Kleidung, die sie am Leibe trugen. Aber sie sagt: Diese Menschen waren immer einander zugetan, stets freundlich; sie leuchteten von innen, schienen mir glücklich zu sein, in sich selbst zu ruhen. Woher kam das? Vielleicht weil sie andere Formen von Wohlstand lebten?
Vivian Dittmar erinnert an den Anfang unserer westlichen Kultur und verweist auf die griechische Philosophie angefangen bei Aristoteles. Da hat man bei der Frage, was das Glück des Menschen ausmacht, die Wahl zwischen zwei Begriffen. Der eine heißt hedone, also Hedonismus, Genuss aller sich mir bietenden Möglichkeiten? Oder ist Glück Eudaimonia, das heißt Leben in Verbundenheit, verbunden zu sein in der Tiefe seines Daseins mit anderen Menschen und mit einem guten Geist.
Daraus sind folgende Formen des Wohlstands abzuleiten.
Zeit-Wohlstand: Sag nicht mehr „Ich habe Zeit“ – „Ich habe keine Zeit“.
Die Zeit ist nicht dein Besitz. Jede Sekunde des Lebens ist dir geschenkt. Du bist die Zeit. Darum verpass nicht die günstigen Augenblicke deines Lebens, in guten Beziehungen zu leben, Naturschauspiele zu genießen, die Gegenwart des Göttlichen in Dir leuchten zu lassen.
Beziehungs-Wohlstand: Das Elend der modernen Gesellschaft ist oft, dass man sich Beziehungen verdienen muss. Man muss erfolgreich, unterhaltsam, gutaussehend, vermögend, sexy sein, um dazuzugehören.
Schätz die Menschen und die Augenblicke, wo du sein kannst, wie Du bist, wo du alle Masken fallen lassen kannst, wo du lachen, aber auch weinen darfst.
Kreativitäts-Wohlstand: Lebe auch die Talente deines Lebens, mit denen Du vielleicht kein Geld verdienen kannst, die aber einer inneren Sehnsucht folgen. Es muss nicht sein, dass Du erst im Rentenalter feststellst, wie schön es ist zu lesen, Musik zu hören, mit anderen kochen, zu malen oder in der Natur zu sein.
Spiritueller Wohlstand: Warum sind unsere Kirchen so langweilig, dass Menschen darin nicht mehr lebendig sein können und die innere Rück-Bindung, die Anbindung an ein letztes Geheimnis nicht mehr spüren?
Ich persönlich habe diese innere Anbindung am meisten gespürt bei den Gottesdiensten der Mönchsgemeinschaft von Taizè in Frankreich, wenn man innerlich verbunden war manchmal mit tausend von internationalen Menschen durch Schweigen, Singen und Beten. Oder im Trommeln, Tanzen und Singen afrikanischer Gras-Wurzeln-Kirchen. Da war Geheimnis, da war Mystik.
Suche Dir die Spiritualität, die dein Herz von innen her berührt und zum Leuchten bringt wie bei den Ureinwohnern von Bali.
Denk an die Witwe im Tempel von Jerusalem: Vielleicht konnte sie alles geben, weil in ihr Eu-Daimonia leuchtete, die Verbundenheit mit Menschen und mit Gott.