2020-09-20- 25.- So.i.J. – Bedürftig
Mt 18, 21-35
Liebe Schwestern und Brüder,
in seinem Roman Schuld und Sühne, der in Russland des 19. Jahrhunderts spielt, hat der Dichter Dostojewskij das heutige Evangelium in folgende Geschichte übersetzt.
„In St. Petersburg“, so heißt es da, „lebte ein Mann namens Marmeldow, ein hoffnungsloser Trinker. Er hatte elf hungernde Kinder und seine Frau, Katharina Iwanowna, war bis auf den Tod an Tuberkulose erkrankt. Die älteste Tochter, Sonja mit Namen, hatte den gelben Schein. Alle Dirnen im damaligen St. Petersburg hatten den gelben Schein. Für Sonja war Prostitution die einzige Möglichkeit, genügend Geld zu verdienen, um die Familie wenigstens vor dem Schlimmsten zu bewahren. Manchmal nahm ihr der Vater auch dieses Geld noch ab, um es zu vertrinken.
Eines Tages nun saß Marmeldow wieder einmal in irgendeiner Spelunke der Stadt. Seine Flasche Branntwein war leer, und er verlangte eine neue. Aber der Wirt weigerte sich. „Hab Mitleid mit mir“, flehte Marmeladow. Da schrie der Wirt: „Mitleid, ich mit dir Mitleid? Mit solch verkommenen Gestalten kann man doch kein Mitleid haben!“ Da stand – wie von einer Eingebung erfüllt – Marmeladow plötzlich auf, warf den Tisch um und schrie in den Raum hinein: „Meinst du denn, du Schacherer von Wirt, du hättest mich mit deinem Branntwein erfreut?! Bitternis, Verzweiflung, suchte ich auf dem Grund der Flasche, und weiß Gott, ich habe sie dort gefunden. Mitleid, nein Mitleid kannst du mit solchen Leuten wie mir nicht haben.“
Erbarmen, Erbarmen kann sich unserer nur einer, der, der sich aller Menschen erbarmt. An jenem Tag, wenn die Menschen vor ihm stehen, und er sein Gericht hält, dann wird er zu mir sagen: „Komm auch Du, du Säufer, du Nichtsnutz. Und komm auch Du Sonja, Du Tochter, die sich für ihre Geschwister geopfert hat; Kommt auch ihr her, ihr Schwachen, ihr Zöllner, ihr Dirnen und Sünder, ihr seid gleich dem Vieh. Ihr habt gelebt wie die Tiere, aber jetzt sollt ihr heißen Menschenkinder, Gotteskinder.“
Und dann werden die anderen protestieren, die Weisen, die Klugen, die Frommen: „Herr, warum auch die? Warum dieser Abschaum?“ Und er wird ihnen antworten: „Darum, ihr Weisen und Klugen, hole ich sie zu mir, weil keiner von ihnen je geglaubt hat, dass er dieser meiner Liebe würdig sei.“
Und dann werden wir niederfallen, meine Tochter Sonja und ich, und wir werden weinen, und wir werden alles verstehen. Und er wird uns segnen, und wir werden zum ersten Mal glücklich sein.“
Kennen Sie Menschen, die Trost suchten auf dem Grund der Flasche, aber am Ende nichts fanden als Verzweiflung? Und schleichend über Jahre öffnet sich der Abgrund immer mehr, in den sie die ganze Umgebung mit hineinreißen, den Ehepartner, die Kinder; sie alle beginnen sich zu schämen, weil die anderen, die gut gesitteten Bürger mit dem Finger auf sie zeigen?
Im Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg macht Jesus diesen gut Bürgerlichen klar: Kein Mensch ist bei Gott für immer abgeschrieben, und wenn er noch so sehr im Sumpf steckt. Und die Tagelöhner, die kein Gutsbesitzer haben will, weil sie für arbeitsscheues Gesindel gehalten werden, und die nur ganz am Ende Arbeit bekommen, die zählen bei Gott genau so viel wie die anderen, und sie bekommen den gleichen Lohn. Denn Gott rechnet nicht ab nach Leistung und Tarifvertrag, sondern nach dem, was einer braucht. Und die von ganz unten haben auch eine ganze Familie zu versorgen, haben vielleicht weinende Kinder.
Aber das finden die anderen, die nach ihren Maßstäben immer ein ordentliches Leben geführt haben, total ungerecht. Sie beziehen ihr Selbstwertgefühl daher, dass sie nach unten schauen können, dass sie sich überlegen fühlen und sich für bessere Menschen halten können. Aber dieses Gleichnis sagt: Wenn das Vergleichen anfängt, dann hört die Liebe auf und Eifersucht nimmt ihren Lauf. Das ist das Problem in allen Beziehungen und Familien. Wenn ich mich vergleiche mit meinem Bruder, der vielleicht den besseren Beruf hat als ich und mehr Geld verdient, dann hört die Liebe auf und Eifersucht nimmt ihren Lauf. Nein, sagt Jesus, jeder Mensch hat seinen Wert und behält ihn auch, selbst, wenn er auf die schiefe Bahn gerät. Und jeder Mensch braucht Liebe. Der Seelsorger einer Strafanstalt sagte mir einmal: 90 % unserer Gefangenen haben in ihren Leben nie Anerkennung oder wirkliche Liebe erfahren, sie waren selbst von ihren Eltern nie geliebt. Sie müssen mit der Botschaft ihrer Eltern leben: Eigentlich wollten wir dich gar nicht, du warst unerwünscht. Ist es dann ein Wunder, wenn ein Leben in Sucht und Kriminalität landet? Denn Sucht ist im Grunde nichts anderes als Sehnsucht nach Liebe, die vor die Wand gefahren ist.
Dieses Evangelium sagt: Es gibt Menschen, die sind so am Ende, dass sie am Ende nur noch bei Gott eine Chance haben. Denn Gott schaut nicht auf Leistung; er vergleicht nicht, er gleicht aus, was Dir je im Leben an Zuwendung und Liebe gefehlt hat. Amen.