2024-02-11-6. Sonntag im Jahreskreis – Der Mensch als alte Haut
Liebe Schwestern und Brüder,
La pelle, die Haut, so heißt ein italienischer Spielfilm, der im Jahre 1944 in Neapel spielt, als die Amerikaner dort einmarschierten. In ekelerregenden Bildern schildert der Film, wie es in diesem Kriegschaos zugeht, wie der Mensch erniedrigt, überrollt, besiegt, prostituiert und ausgebeutet wird, bis nur noch ein Aspekt von ihm übrig bleibt: Die Haut. Die Haut, die jeder zu retten versucht, die Haut, die man zu Markte trägt, die Haut, die man jemanden über den Kopf zieht, die Haut, die man so teuer wie möglich zu verkaufen sucht – der Mensch als alte Haut, als treue Haut, nackte Haut, verwundete Haut.
La pelle, die Haut. Haut steht für Mensch. Tatsächlich ist die Haut mehr als nur die Oberfläche unseres Körpers. Sie ist das Organ, mit dem wir im ständigen Kontakt mit der Außen-Welt stehen. Die Augen, die Ohren, den Mund können wir schließen, die Haut nicht. Deshalb können Krankheiten der Haut entstehen, wenn Menschen die Wirklichkeit als ständig angsteinflössend erleben. Die Haut reagiert allergisch auf mangelndes Angesprochen- und Gestreicheltwerden. Ausschlagerkrankungen haben häufig eine psychosomatische Ursache. Die Bibel hat Recht, wenn sie den Aussatz als eine Krankheit der Seele beschreibt, als ein Chaos von wirren Stimmen, Gefühlen und Geistern in Deinem Inneren. Und hat man erst einmal diese Krankheit, zieht man sich immer mehr in sich selbst zurück. Die äußere Wundheit wird zur Empfindlichkeit der Seele. Nelly Sachs hat ein solches Leben einmal in einem Gedicht beschrieben:
„Wir sind so wund,
dass wir zu sterben glauben,
wenn die Gasse uns ein böses Wort nachwirft.
Die Gasse weiß es nicht,
aber sie erträgt nicht eine solche Belastung,
nicht gewöhnt ist sie einen Vesuv der Schmerzen
auf ihr ausbrechen zu sehen.
Die Erinnerungen an Urzeiten sind ausgetilgt bei ihr,
seitdem das Licht künstlich wurde
und die Engel nur noch mit Vögeln und Blumen spielen
oder im Traum eines Kindes lächeln.“
Wer kennt sie nicht, die Menschen, die aus einem Vesuv von Schmerzen bestehen, und die sofort explodieren bei der kleinsten Kränkung, die Menschen, die – wie einst Hannelore Kohl – sich so zurückziehen müssen – dass sie nur noch künstliches Licht ertragen und sich dann sehnen nach dem glücklichen Urzustand, dem Paradies mit Blumen, Vögeln und Engeln.
Zur Zeit der Bibel wurden hauterkrankte, aussätzige Menschen ausgegrenzt, aus Furcht vor Ansteckung. Wenn jemand kam, mussten sie sich lang hinstrecken, eine Klapper schlagen und ausrufen: Nicht näher. Jesus überwindet diese Grenze. Er scheut nicht die Gefahr der Ansteckung. Er berührt ihn sogar. Warum hat dieser Jesus keine Angst? Er weiß, dass in ihm etwas Ewiges lebt, und selbst, wenn er leprakrank wird und daran sterben sollte, diesen ewigen Kern kann man nicht vernichten. Das weiß dieser Jesus und deshalb bringt er den Aussätzigen in Verbindung mit diesem ewigen Kern, mit Gott. Und das heilt. Dieser Mensch, der sich von allen abgelehnt fühlt, spürt von innen her neue Kraft, göttliche Kraft. Da fällt der ganze Aussatz wie Schuppen von ihm ab.
Jesus ist ein Grenzüberschreiter in jeder Hinsicht. Im damaligen Israel verbannte man nicht nur die Aussätzigen, eigentlich alle Kranken, Behinderten vor die Mauern der Stadt aus Angst vor Ansteckung, aber auch, weil man sie für schuldig hielt. Sonst wären sie nicht krank. Jesu durchbricht diese geistigen Zäune radikal: Bei der Heilung eines Blinden im Johannesevangelium sagt er: Weder er noch seine Eltern haben gesündigt. Niemand ist krank, weil er schuldig geworden ist. Jesus hat keine Berührungsängste, nimmt jedes Ansteckungsrisiko in Kauf.
Jesus ist Grenzüberschreiter in jeder Hinsicht: In der damals so gespaltenen Gesellschaft zwischen oben und unten ging er zu den Zöllnern, Dirnen, den sozial Ausgegrenzten. Und wer da hin ging, grenzte sich selbst aus der bürgerlichen und religiösen Gesellschaft aus.
Grenzüberschreiter auch im politischen Sinn: Er ging nach Samaria,
dem Land der Irrgläubigen und Feinde. Er ging überall dahin, wo Menschen nach Heilung verlangten aus der Verbindung mit diesem ewigen Kern. Theologisch würden wir sagen: das war die anthropologische Wende schon 2000 Jahre, bevor der Theologe Karl Rahner davon sprach.
La pelle, die Haut. Wir haben die Kraft, Berührungsängste zu überwinden, die Kraft einander näher zu kommen, weil nach Navid Kermani der ewige Kern, der eine Geist uns miteinander verbindet.