Predigt vom 24.12.2021 – Heilig Abend

2021-12-24-Heilig Abend

Liebe Schwestern und Brüder,
vor einigen Jahren wurde ich in der Weihnachtsnacht zu einer
hochbetagten sterbenden Frau in ein Altenheim gerufen, um dieser Frau
die letzte Salbung zu spenden. Die Frau war schon an der Grenze
zwischen Bewußtsein und Unterbewußtsein, zwischen dieser Welt und
jener Welt. Als ich mit dem Salböl ihre Hand berührte wiederholte die
Frau in einer Endlosschleife immer wieder den Satz: „Mama, puste
nochmal. Mama, puste nochmal. Mama, puste nochmal.“ Während der
Dauer des gesamten Rituals immer wieder der Satz: „Mama, puste
nochmal.“
Woran mag sich diese Frau erinnert haben? Die Wohnbereichsleiterin im
Altenheim gab Auskunft über ihre Lebensgeschichte. Als kleines Kind
hatte sie 1945 an der Hand ihrer Mutter Flucht und Vertreibung erlebt.
Der Vater war wahrscheinlich noch in Gefangenschaft. Vielleicht hatte
sich das Kind auf der Flucht verletzt und war in große Gefahr geraten.
Hatte die Mutter Salbe, Medikamente, Verbandszeug? Möglicherweise
hatte sie nichts als ihren Atem, um ihrem Kind Heilung und Trost
zuzusprechen. „Mama, puste nochmal.“
Natürlich kann die Mutter nicht an die Stelle der Ärzte treten und ihr Kind
medizinisch kurieren. Indem sie das Kind tröstet, in die Arme schließt,
streichelt und über die Wunde haucht, wendet sie sich der Seele zu, die
durch die körperliche Wunde auch tief verletzt ist. Denn die kranke Seele
fragt sich dann (zumeist) unbewusst: „Warum ist mir das passiert?
Welche Bedeutung hat jetzt noch mein Leben? Wo liegt der Sinn? Wer
mag mich noch? Wo komme ich an mit meinem Leben, finde ein
Zuhause?“
Die Mutter schenkt dem Kind alles, was sie noch hat, ihren Atem und
damit ihre Seele. Denn in der hebräischen Sprache ist das Wort für Atem
dasselbe wie für Seele.
Möglicherweise ist der alten Frau im Altenwohnheim diese Erfahrung in
ihrem Verstand über all die Jahrzehnte ihres Lebens nie präsent
gewesen. Aber die Seele hat sie nicht vergessen. Und jetzt, in der
Todesgefahr im hohen Alter, kann sie auf diese Ressource zurückgreifen: „Mama puste nochmal!“ Der früh erlebte Atem der Mutter kann
sie jetzt anschließen an den großen Atem Gottes. Denn Gott ist für uns
Mutter und Vater.
Die aus der Biographie der alten Frau vermutete Erfahrung erinnert mich
an das Leben der kleinen Familie von Betlehem, die heute im Mittelpunkt
steht. Eine hochschwangere Frau kommt mit ihrem Mann an in einer
Stadt, in der sie nur auf Ablehnung stoßen. Kein Platz in irgendeiner
Herberge. Sie haben buchstäblich nichts, um zu überleben, nur noch
einen Platz zum Schlafen im zugigen Stall bei den Tieren. Es sind die
Tiere, die dem Kind einen Platz gönnen, um zur Welt zu kommen. Sie
stellen ihren Futtertrog, den Behälter also, aus dem sie selber leben, zur
Verfügung.
Wie mag diese Familie gehungert, gefroren haben? Und wie sehr mag
sich das Kind in die Welt gekämpft haben in nicht steriler Umgebung,
ausgesetzt allen möglichen Infektionen, mit Geschwüren und
Hungerödemen? Was hatten die Eltern, um ihren Kind Schutz und
Heilung zu geben? Vielleicht auch nur den Atem, die offenen Arme, die
Zuwendung und die Geborgenheit. „Mama, Papa, pustet nochmal.“
So genau kommt der Heiland zur Welt. Immer wieder betritt er auf diese
Weise unseren Planeten, in den verborgenen Ställen und Hütten von
Afghanistan, an den Stacheldrahtzäunen von Belarus…, selbstverständlich auch in einer Klinik oder einem Geburtshaus einer
deutschen Stadt oder Dorfes. Betlehem geschieht 365 Tage im Jahr an
unendlich vielen Plätzen dieser Welt. Andauernd kommt der Heiland,
sucht nach Herberge in Häusern und in Herzen, will sich bergen im
mütterlichen und väterlichen Atem dieser Welt.
Bei unserer Altenheimbewohnerin ist die Mutter letzte Sicherheit. Sie ist
kurz nach der letzten Salbung gestorben. Und ich bin mir sicher, sie hat
im Sterbeprozess ihre Mutter gesehen am anderen Ufer des Lebens. Sie
hat nach Rückbindung an ihre Basis gesucht. Das lateinische Wort für
Rück-Bindung heißt Re-Ligio. Im Innern der hochbetagten Frau, also in
ihrem Erinnern lebt die Basis ihrer Mutter und hilft ihr, den Weg in die
ewige Mütterlichkeit ihres Schöpfers zu finden, wo sie nach christlichem
Glauben auch ihre irdische Mutter wieder trifft.

Der Heiland
Immer wieder wird er Mensch geboren,
Spricht zu frommen, spricht zu tauben Ohren,
Kommt uns nah und geht uns neu verloren.
Immer wieder muss er einsam ragen,
Aller Brüder Not und Sehnsucht tragen,
Immer wird er neu ans Kreuz geschlagen.
Immer wieder will sich Gott verkünden,
Will das Himmlische ins Tal der Sünden,
Will ins Fleisch der Geist, der ewige, münden.
Immer wieder, auch in diesen Tagen,
Ist der Heiland unterwegs, zu segnen,
Unsern Ängsten, Tränen, Fragen, Klagen
Mit dem stillen Blicke zu begegnen,
Den wir doch nicht zu erwidern wagen,
Weil nur Kinderaugen ihn ertragen.
von Hermann Hesse


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„Die Weihnachtsgeschichte um das Jahr 0“ als pdf

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