Predigt vom 24.10.2021 Weltmission

2021-10-23_30._So.i._J._Weltmissionssonntag

Mk 10,46-52

Schlusslicht

Liebe Schwestern und Brüder,

in einem Seminar hatten wir den Menschen die Frage gestellt: An welchen Stellen unseres Lebens hat uns der Glaube geholfen? An welchen hat er uns aber auch behindert und enttäuscht. Unter den Teilnehmenden war eine junge Frau, die von Geburt an blind war. Ich nenne sie hier Andrea. Sie erzählte, dass sie als Kind eine katholische Blindenschule besucht hatte. Sie tat sich in einem Fach schwer mit dem Unterrichtsstoff. Es kam hinzu, dass die Lehrerin sie nicht leiden konnte. Und wenn Andrea wieder etwas nicht konnte, dann sagte die Lehrerin manchmal: Andrea ist unser Schlusslicht. Das ist, scheint mir, der Gipfel des Zynismus, einem blinden Menschen zu sagen: Du bist ein Schlusslicht. Aber die Lehrerin hielt sich für sehr gläubig, betete mit den Kindern vor und nach dem Unterricht. Wenn auf solch drastische Weise Glaube und gelebtes Leben auseinander brechen, dann darf man sich nicht wundern, dass Kinder und Jugendliche den Glauben in ihrer Lebensgeschichte eher als belastend, denn als Hilfe erfahren haben.

In gänzlich anderer Weise geht Jesus im heutigen Evangelium vor. Zu seiner Zeit gab es noch keine Blindenschulen, keine Krankenhäuser oder Behinderteneinrichtungen. Man grenzte behinderte und kranke Menschen einfach aus, warf sie gleichsam vor die Mauer der Stadt. Dort konnten sie allenfalls betteln und darauf hoffen, dass ihnen die sog. anständigen Bürger mal ein paar Drachmen zuwarfen. Man dachte, solche Menschen müssen irgendwann schuldig geworden sein, sonst wären sie nicht behindert. Sie galten darum als Abschaum. Behinderte waren im damaligen Palästina alle verlorene Menschen, eben Schlusslichter der Gesellschaft. Der Kontakt zu ihnen war zu meiden.

Man muss diesen gesellschaftlichen Hintergrund kennen, um zu ahnen, welche Grenzen dieser Jesus fortlaufend überschritten hat. Da liegt ein Blinder vor dem Stadttor. Jesus hat es an diesem Tag eigentlich eilig. Er muss noch zu Fuß von Jericho nach Jerusalem. Das sind fast 30 Kilometer mit 1000 Metern Höhenunterschied durch ein Wüstengebiet, in dem es vor Schlangen, wilden Tieren und Räubern nur so wimmelt. Trotz dieses Stressprogramms lässt er sich von dem Hilferuf des Blinden aufhalten. Ein einzelner Mensch in Not ist ihm wichtiger als der große Event in der Hauptstadt Jerusalem.

Und wie geht er mit dem Blinden um? Er macht keine Vorwürfe. Er fragt nicht, was hast du getan? Womit bist Du schuldig geworden? Sagt eben nicht: Du bist ein Schlusslicht.

Er geht ganz behutsam mit diesem Menschen um. Er weiß nicht, was gut für diesen Menschen ist. Er fragt ihn ganz behutsam: Was willst Du, dass ich dir tun soll? Also, was brauchst Du? Wie kann ich dir helfen?

Damit macht er vor den Augen der ganzen bürgerlichen Gesellschaft das Schlusslicht zum leuchtenden Stern. Mindestens genauso wichtig wie die Rückgabe des Augenlichts ist für Bartimäus die Rückgabe der Würde, der persönlichen und menschlichen Bedeutung.

Auch Andrea hat in ihrem späteren Leben durch empathische Pädagogen und andere Menschen erkannt, dass sie kein Schlusslicht ist, dass Gott auch ihr Würde und ganz viele Talente geschenkt hat, zum Beispiel musikalische. Das hat sie zum Glauben zurückfinden lassen, zum Glauben an sich selbst und an Gott. In den Morgenrunden und beim Schlussgottesdienst unseres Seminars hat sie die Lieder auf der Querflöte begleitet. Und alle haben gestaunt: Boah, eine blinde Frau, die so virtuos auf der Querflöte spielt.

So zugewandt wie Jesus es in der Bartimäusgeschichte vorlebt, soll christliches Leben sein. Jeder Lehrer sollte die Schüler, jede Pflegekraft oder Ärztin die Patienten, jeder Mensch den anderen Menschen so fragen: Was brauchst Du? Wie kann ich dir helfen. Das allein läßt einen Menschen, der sich klein fühlt, innerlich wachsen, verwandelt das Schlusslicht in einen Stern, die Minderwetigkeitskomplexe in Selbstbewußtsein.

Lassen Sie mich zum Schluss dieses Evangelium am Weltmissionssonntag auch global deuten. Afrika z.B. ist in allem das Schlusslicht der Welt, wirtschaftlich, medizinisch, hygienisch, politisch bildungsmäßig und nicht zuletzt in der Pandemie. Afrika braucht in allem unsere empathische Zuwendung, und sei es in den Spenden am heutigen Sonntag. Es ist erbärmlich, in Afrika zu leben. Aber ich habe auch von den Menschen, die dort leben viel gelernt. Nach meiner letzten Reise nach Ghana habe ich in mein Tagebuch geschrieben:

Um zwei Dinge beneide ich die Afrikaner trotz all ihrer Not und ihres unterirdischen Lebensstandards.

  1. Sie haben keine Angst vor dem Tod, weil ein unerschütterlicher Gottesglaube ihr Leben trägt.

  2. Nähe, nur menschliche Nähe ist wichtig. Es gibt in ihren Dörfern wohl Streit, manchmal sogar ganz heftig, aber es gibt keine Einsamkeit, nur Nähe, wie Jesus sie dem Blinden gibt. Amen.


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