Predigt vom 21.3.2021 – Es geht anders

2021-03-21-5._Fastensonntag_Misereor
Es geht anders!
Joh 12,20-33

Liebe Schwestern und Brüder,
im Jahre 1985 war ich Diözesanpräses der KLJB, der Landjugend. Mit einer Gruppe von vier Landjugendleuten besuchten wir damals Lateinamerika, die Länder Argentinien, Brasilien, Paraguay und Bolivien, um Projekte für die Aktion Minibrot zu erkunden.

Einmal saßen wir zu zweit auf einer Bank in der südbrasilianischen Stadt Novo Iguazu und schrieben Tagebuch. Da kam ein völlig verdreckter Junge auf uns zu und wollte betteln. Ein paar Peso waren ihm nicht genug. Darum trat er, schrie, spuckte kratzte er uns so lange, bis meinem Freund die Hand ausrutschte und ihm so eine scheuerte, dass er im Graben landete und sich vom Acker machte. Aber wenige Minuten später kam er zurück als der freundlichste Mensch von der Welt. Er erzählte uns, dass er Alberto hieß, 12 Jahre alt und von zu Hause weggelaufen war und als Straßenjunge sein Leben fristete. Er schlug sich durch mit Klauen, Betteln, kleine Arbeiten bei Strassenhändlern. Sein Körper war über und über von blauen Flecken bedeckt, Wundmale von den täglichen Prügeleien in den Kinderbanden. Irgendwann ging der Junge, und wir machten uns auf zum Bahnhof, um mit dem Zug den 2500 km langen Weg nach Buenos Airs zurückzulegen. Wir waren noch keine halbe Stunde unterwegs, da erschien vor unseren Augen Alberto. Er hatte sich als blinder Passagier in den Zug einge-schlichen. Wenn der Schaffner kam, verschwand Alberto, um dann gleich wieder aufzutauchen, wenn die Luft rein war. In einer Pause besuchten wir ein Bahnhofsrestaurant, mit uns Alberto. Wir gaben ihn ein Mahlzeit aus. Noch nie habe ich gesehen, wie jemand einen vollen Teller Essen in kürzester Zeit so verschlingen kann. Alberto strahlte über das ganze Gesicht. Seit langer Zeit mal wieder richtig satt.
Wir wurden Alberto für die nächsten Tage nicht mehr los und freundeten uns regelrecht mit ihm an. Irgendwann fuhren wir zum Flughafen, um nach Deutschland zurückzufliegen. Beim Einchecken stand Alberto plötzlich wieder hinter uns. Seine Augen, sein Mund, der ganze Körper bestand praktisch aus dem einzigen Schrei: Bitte nehmt mich mit nach Deutschland.
Wir konnten ihn nicht mitnehmen, und waren deshalb selbst totunglücklich und fühlten uns schuldig.

Seitdem ist mir sehr bewusst, welch Privileg es eigentlich ist, in Deutschland geboren zu sein und nicht als Straßenkind in irgendeinem Slum der Welt.
In dieser Zeit der Pandemie schärft sich doch dieses Bewußtsein, dass wir Menschen alle gleichwertig sind. So tragen etwa die Müllarbeiter*innen in den Slums von Manila genauso Mund- und Nasenschutz wie die Spekulanten an der Börse in Frankfurt, die Strassenkinder in La Paz in Bolivien genauso wie die Eliteschüler von Schoß Salem am Bodensee. Wie soll es für alle weitergehen in dieser Welt, in dieser Pandemie, nach dieser Pandemie?

„Es geht weiter“, antwortet die MISEREOR-Fastenaktion 2021.“Aber anders geht es weiter. Es liegt in unserer Hand.“
All die Einschränkungen des letzten Jahres haben uns den Wert von Familie und Gemeinschaft neu vor Augen geführt.
Du hast Nachbarn im Treppenhaus, überm Gartenzaun, vielleicht auch leidende, alleinstehende Menschen. Sie sind ein Teil von Dir. Lebe in Kontakt, verweile bei ihnen. Und weltweit sind wir eine Familie. Kommt es auf den Hochpaltaus von Boliven und den Elendsgebieten von Accra nicht zum Impfen, kommt die Pandemie zurück.

Es geht anders! Auch in unserer Wirtschaft.
Teilen statt shoppen, muss die Devise lauten. Kaufe nicht die Billigklamotten beim Discounter, die in Fabriken hergestellt werden, die über den Näherinnen zusammenbrechen. Kaufe Kleidung, Kaffee, Schokolade, Tee und so viele Dinge des täglichen Gebrauchs im fairen Handel, z.B. im Eine-Weltladen in der Langen Strasse in Salzkotten.

Es geht anders in der Kirche
Kirche ist nicht zuerst die Macht geweihter Ämter. Es ist ein Wahnsinn, dass in Köln zurzeit alle 10 Minuten jemand aus der Kirche austritt, weil ihm das Verhalten von Kardinälen, Bischöfen oder Priestern nicht passt. Nach der Definition Jesu ist Kirche etwas ganz anderes. Er hat weder Bischöfe noch Priester geweiht im großen Tempel. Er hat zu einfachen Fischern und Handwerkern, zu Hausfrauen und Müttern, gesagt: Weint nicht, tröstet Menschen, verbindet ihre Wunden, macht sie heil und sagt ihnen die gute Nachricht: Das Weizenkorn bleibt nicht allein in der Erde; eure Toten bleiben nicht zurück im Grab, sie leben in Gottes Nähe im Osterland absoluter Güte und Liebe. Nach dieser Definition sind Ich, Du, Wir Kirche. Wir sind dazu geschaffen, einander nicht egal zu sein von hier bis zu Alberto in Buenos Aires. Wenn wir heute MISEREOR unterstützen, dann dienen wir dieser Sichtweise von Kirche.


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2 Gedanken zu „Predigt vom 21.3.2021 – Es geht anders

  1. Lieber Ulli,
    du schreibst so eindrucksvoll über diesen Alberto in Nova Iguacu. Dort bin ich auch gewesen und habe die Probleme und die Mentalität der Straßenkinder kennengelernt. Im Nachhinein frage ich mich oft: Warum bin ich hier in Deutschland und nicht in solch armen Verhältnissen geboren?
    Du lenkst immer wieder den Blick über den Tellerrand hinaus.Danke !!!!

  2. Vielen Dank für die berührenden Worte ! Ich bin regelmäßige Teilnehmerin der Misereor Hungertuchwallfahrt ,die in diesem Jahr natürlich auch wegen Corona ausfallen musste. Dabei ist es mir so wichtig geworden ein paar Tage mal mit Abstand von eigenen Problemen und in Gemeinschaft über unseren Tellerrand in die weite Welt zu blicken ! Misereor schafft Hilfe die ankommt ,- an der Basis ! Wir sind alle Kinder Gottes und wissen gar nicht wie gut es uns – trotz aller Pandemie Einschränkungen noch geht ! Danke !

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