2021-11-21-Christkönig
Joh 18,33-37
Was ist Wahrheit
Was ist Wahrheit? Das ist die Pilatusfrage.
Jemand, der fast 2000 Jahre später vor ähnlichem Tribunal stand wie
Jesus von Nazareth, hat sich zentral mit dieser Frage beschäftigt,
Dietrich Bonhoeffer, der evangelische Theologe und Widerstandskämpfer gegen die Nazis. Was ist Wahrheit? In den endlosen Nächten
im Gefängnis von Berlin Tegel liegt er so oft schlaflos langgestreckt auf
seiner Pritsche und starrt gegen die graue Wand. Manchmal fallen ihm
Verse ein, die für ihn wie eine Rettung sind. In einer Nacht im Sommer
1944 waren es Verse zur Wahrheit:
„Bruder Jesus, wir suchen dich,
Bruder Jesus, hörst Du mich
Leidensscheu und arm an Taten
haben wir dich vor den Menschen verraten.
Wir sahen die Lüge ihr Haupt erheben
und haben der Wahrheit nicht Ehre gegeben.
Brüder sahen wir in größter Not
und fürchteten nur den eigenen Tod.”
1939 war Bonhoeffer schon in Sicherheit in Amerika. Die schwarze
Gemeinde in New York hatte ihm eine Professur angeboten. Aber die
Frage bohrte in ihm. Was ist die Wahrheit Jesu für mein Leben? In
Sicherheit bleiben oder die in Deutschland gegen den Nationalsozialismus kämpfenden Brüder nicht länger allein lassen? Er ringt
Monate lang um ein göttliches Zeichen für eine Entscheidung. Und
bekommt doch keine Eingebung. Er muss den Sprung in die Wahrheit
seines Lebens schon selbst wagen. Er tut es, und in dem Augenblick, als
er auf dem Schiff nach Deutschland ist, weiß er: Das war richtig. Bei den
Brüdern zu sein, das war seine Wahrheit. Das Werk, in dem die
Aufzeichnungen aus diesen einsamen Stunden in Berlin Tegel
zusammen gefasst sind, heißt Widerstand und Ergebung. Die Kraft zum
Widerstand bezog Bonhoffer aus seinen Wurzeln. Vor allem seine Mutter
Paula hatte die Kinder zu selbstständigen Persönlichkeiten erzogen. Im
Widerstandsprozess stellte er dann fest, dass die Ergebung in die
göttliche Bestimmung seines Lebens ihm ungeahnte Kräfte verlieh. Er
wußte um das Ziel seines Lebens. Und wie Jesus dem Pilatus ins
Gesicht sagen kann: Alles was mich bestimmt oder beherrscht, ist nicht
von dieser Welt. Es hat ewige Wurzeln! So erkennt Bonhoffer: Die
Pilatusse dieser Welt, diese Gestapo- und SS-Leute, sie können mir
alles nehmen, die Freiheit, die Braut, die Eltern, die Geschwister am
Ende sogar das Leben, aber nicht diese ewige Zielbestimmung. Und
drückt dann diese Erkenntnis in diesem Satz aus: „Gott führt uns durch
Glück und Unglück immer nur zu Gott.“ Widerstand und Ergebung.
Vielleicht hätte das Werk auch heißen können: Resilienz und Religion.
Die Widerstandskraft kommt letztlich aus dem Vertrauen in eine absolute
Rück-Bindung, Re-Ligio.
Was ist Wahrheit? Wie gehen wir damit im normalen Leben um? Als
Kinder haben wir gelernt, du sollst nicht lügen. Das aber ist nicht einfach
so schwarz auf weiß zu leben. Bonhoeffer hat sich viele Gedanken
gemacht über die Bezogenheit christlicher Werte aufeinander, auch über
die Hierarchie der Werte. Was ist Wahrheit?
Er nennt in seinem Hauptwerk „Die Nachfolge“ folgendes Beispiel:
In einer Schulklasse fragt der Lehrer ein Kind: Na, ist dein Vater gestern
Abend wieder betrunken nach Hause gekommen. Nein, sagt der Junge,
mein Vater war den ganzen Abend bei uns. Es stimmt nicht. Der Junge
hat gelogen. Und doch lebt er in der Wahrheit, ist er im Recht, weil er die
Würde seiner Familie geschützt hat. Und der Lehrer ist im Unrecht, weil
er die Intimsphäre der Familie verletzt hat. Es geht also um eine tiefere
Wahrheit, um die Wahrheit hinter der vordergründigen Wahrheit.
Diese Ethik, die sich in der tieferen spirituellen Wurzel des Daseins
verankert, hat den christlichen Widerstand gegen Hitler bewegt, hat
seine Resilienz ausgemacht. Man hat selbst noch viele Jahre nach dem
Krieg dem deutschen Widerstand vorgeworfen, er habe das deutsche
Volk verraten. Der Kopf des Kreisauer Kreises, Helmut James Graf von
Moltke, hat noch vor seiner Hinrichtung dazu gesagt: Wie kann man ein
Volk verraten, das längst schon lange vorher von einer verbrecherischen
Führungsschicht bin ins allerniedrigste verraten worden war?
Wer meine Stimme hört, bleibt in der Wahrheit, sagt Jesus im
Evangelium dieses Festes. Und Bonhoeffer hatte schon im Februar 1933
in einer Rundfunkansprache sinngemäß gesagt: „Da wo politische
Führer sich selbst zum Abgott der Geführten machen, werden sie zu
Verführern…“!
Seine Wahrheit blieb die innere Stimme Jesu bis unter den Galgen. Der
SS-Offizier sagte kurz vor der Hinrichtung zu ihm: Nah Pastor
Bonhoeffer: das ist jetzt das Ende. Darauf Bonhoeffer: Für sie vielleicht
das Ende, für mich ist es der Anfang.
Wie war das noch: „Gott führt uns durch Glück und Unglück immer nur
zu Gott.“