Predigt vom 15.04.2022 – Karfreitag – Der Kreuzschlepper

Der Kreuzschlepper

Johannespassion

Liebe Schwestern und Brüder,

in Wiedenbrück, der Stadt, in der ich 11 Jahre Pfarrer war, gibt es seit über 350 Jahren die Kreuztracht, eine Prozession, die mit einem verkleideten und maskierten Jesusdarsteller als Kreuzträger durch die Stadt zieht.  Kein Mensch weiß, wer der Kreuzträger ist, nur der Vorsteher des Franziskanerklosters und nach Auflösung des Klosters der Pfarrer von St. Ägidius. Es melden sich dazu Menschen, die oft eine schwere Schuld auf sich geladen haben und durch das Kreuz Wiedergutmachung leisten wollen. Das Kreuz ist groß, aber innen hohl. Innen wird es mit Steine gefüllt je nach dem Grad der Schwere, wie der jeweilige Kreuzträger das wünscht. Unterwegs hält die Prozession 7 x an, den sieben Fussfällen Jesu entsprechend. Als Pfarrer von St. Ägidius bin ich all die Jahre unmittelbar hinter dem Kreuzträger gegangen und sah, wie der maskierte Jesusdarsteller oft schwer zu schleppen hatte, die Füße zitterten und kaum noch Kraft war, sich auf den Beinen zu halten und nach den Fussfällen wieder aufzustehen. Und ich dachte: Das ist kein Träger, das ist ein mühsamer Kreuzschlepper.

Heute sieht man z.B. im Fernsehen nicht Kreuzschlepper, aber Lastenschlepper in anderer Form.

Frauen mit Kindern an der einen Hand und in der anderen Hand Koffer, Plastiktüten, Reisetaschen. Familien, die aus ihrer Heimat fliehen müssen und in Polen, Ungarn, Rumänien und schließlich bei uns auf den Bahnhöfen ankommen. Sie haben in aller Eile das Allernötigste zusammengepackt und viel mehr zurückgelassen. Der Koffer, den sie schleppen, steht nicht für die Vorfreude auf Urlaub, sondern für das Leid der Flucht und den Verlust von Haus und Besitz. Der Koffer in den Händen von Menschen wird zum schweren Kreuz, das Jesus schleppt. Und wieviel Angst, Leid, Verzweiflung und Schmerz schleppen diese Menschen in ihrer Seele mit, traumatische Erfahrungen.

Und wir hier in diesem Dorf in Siddinghausen? Sind nicht auch wir in anderer Weise alle Kreuzschlepper? Ich meine nicht nur die Geflüchteten, die hier ankommen, nein auch, die hier vielleicht schon lange  wohnen. Da schleppen sich Menschen ab an einer schweren Trauer auf dem Herzen, einer Krankheit, die nicht weichen will, einer ausgeschlagenen Vergebungsbitte, der ungewissen Zukunft ihrer Kinder und, und und…. Viele Kreuzschlepper tagtäglich. Wie ist das auszuhalten? Indem einer kommt wie der Bauer, der Simon von Cyrene, der hilft, das Kreuz zu tragen. In der Wiedenbrücker Kreuztracht ist auch er unkenntlich maskiert. Er bleibt nicht am Rande stehen, er lässt sich hineinziehen. „Einer trage des anderen Last, so werdet ihr das Gesetz Christi erfüllen.“ Schreibt Paulus im Brief an die Galater. Die Ukrainer brauchen unsere oft unsichtbare Hilfe. Ob sie auch unsere schweren Waffen brauchen? Am Rande des Kreuzwegs stehend, als Zuschauer per Television, lassen sich schnell Urteile fällen. Ich möchte nicht in der Haut der Politiker stecken, die entscheiden müssen, z.B. in der Haut des  Bundeskanzlers.

Amanda Gorman, eine 24.-jährige farbige Amerikanerin, hat  bei der Vereidigung von Präsident Biden ein Gedicht vorgetragen aus der Leiderfahrung ihres farbigen Volkes von Amerika.

Wir legen unsere Waffen nieder,

damit wir unsere Arme

nach einander ausstrecken können.

Wir wollen Schaden für keinen und Harmonie für alle.

Lasst uns der Welt sagen, dass dies wahr ist:

Dass wir, selbst als wir trauerten, wuchsen

Dass wir, selbst als wir Schmerzen litten, hofften

Dass wir, selbst als wir ermüdeten, es weiter versucht haben

Dass wir für immer verbunden sein werden…

Nicht weil wir nie wieder eine Niederlage erleben werden,

sondern weil wir nie wieder Spaltung säen werden.

Die Heilige Schrift sagt uns, dass wir uns vorstellen sollen,

dass jeder unter seinem eigenen Weinstock und Feigenbaum sitzen soll

und keiner ihnen Angst machen soll.

Einer trage des anderen Last, nur so erfüllt ihr Christi Gesetz.


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